Das Foto zeigt Sandra Roth. Fotografin und Copyright: Bettina Fürst-Fastré
Die Journalistin Sandra Roth hat ein besonderes Buch über ihre behinderte Tochter geschrieben. Nina Krüger macht Öffentlichkeitsarbeit in der Bundesvereinigung Lebenshilfe und hat Lotta Wundertüte in einem Rutsch durchgelesen, denn sie konnte das Buch "einfach nicht weglegen". Lesen Sie hier ihre Rezension:
Lotta ist fast drei Jahre alt und kann eine ganze Menge: Schmusen. Gut zuhören. Geheimnisse für sich behalten. Und krabbeln. Krabbeln? Jetzt erst? Und wie – zumindest im Geheimen. Sagt ihr Bruder Ben. Lotta ist schwerbehindert: Kurz vor ihrer Geburt wurde in ihrem Gehirn eine Fehlbildung entdeckt. Sie ist ein Vena-Galeni-Kind, körper- und sehbehindert. Was das für ihr Leben bedeutet, ist nicht vorherzusagen. „Lotta ist eine Wundertüte“, sagt ein Arzt, „Man weiß nie, was drin ist.“ Heißt das nicht auch, dass man Sachen bekommt, die man gar nicht haben will?
Sandra Roth hat ein Buch über ihre Tochter geschrieben – nicht nur über sie, auch über ihre Familie und sich selbst. Was macht es mit dir, wenn plötzlich Träume zerplatzen? Wenn dein altes Leben dir vorkommt wie Bullerbü? Wenn du nicht in der Stillgruppe sitzt, sondern auf der Intensivstation? Wenn du einen Reha-Buggy kaufen musst und kein Laufrad? Es ist verdammt hart. Und gerade deswegen hätte es ein anstrengendes, klagendes Buch werden können – ist es aber nicht. „Lotta Wundertüte“ liest sich ehrlich, emotional und humorvoll. Roth beschönigt nichts, sie erspart dem Leser keinen Krampfanfall und keine Hirn-OP – mit gleicher Intensität erzählt sie aber auch von dem unglaublichen Gefühl, Lotta nach sechs Monaten zum ersten Mal lächeln zu sehen:
„Zwei hochgezogene Mundwinkel ändern alles. Zum ersten Mal kommt etwas zurück von Lotta. Sie zum Lächeln zu bringen wird unser aller Lieblingsbeschäftigung. Wir können etwas für sie tun. Wir können dafür sorgen, dass sie mehr ist als nur blind und behindert: glücklich.“
Und trotzdem ist es manchmal schwer zu ertragen: Das Anstarren, das Weggucken, der mitleidige Blick der Bäckersfrau. „Irgendwann ist auf den ersten Blick alles klar. Menschen beginnen, über sie hinwegzuschauen. Ihre Augen gleiten über mein schönes kleines Mädchen, als gäbe es sie gar nicht.“ Das tut weh – und macht zynisch. Und plötzlich mag man sich selber nicht mehr, wenn man auf die Schuppenflechte des Nachbarsjungen (was ist ein bisschen trockene Haut schon im Vergleich zu Lottas epileptischen Anfällen?) mit Sarkasmus reagiert. „Warum bin ich so gemein? Darf hier keiner leiden außer mir? Habe ich ein Abo auf die Auszeichnung «Schlimmstes Schicksal» des Jahres?“ Sandra Roth analysiert ihr eigenes Verhalten genauso schonungslos wie das ihres Umfeldes: „Vielleicht muss man sich Selbstmitleid leisten können. Wer in einer Pfütze voll Kummer sitzt, kann sich darin wälzen und suhlen. Wer im tiefen Meer schwimmt, der will nicht darüber nachdenken, wie tief es nach unten geht.“ Wie einfach die Welt wäre, wenn alle behinderte Kinder hätten, oder?
Die Stärke des Buches ist, dass Roth, die als freie Journalistin für Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und die Brigitte schreibt, sich nicht in der persönlichen Ebene verliert. Sie ordnet ihre Erlebnisse ein und liefert Fakten. Zum Beispiel zum Thema Inklusion. Als Lotta in einen Regelkindergarten kommt ist Roth unsicher: Kann das funktionieren? „Kann man gleichzeitig Zweijährigen gerecht werden, die sich um den Puppenwagen streiten und ein schwer mehrfach behindertes Kind fördern?“ In Sachen Inklusion hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher – und hat sich verpflichtet aufzuholen. Bleibt Lotta dabei auf der Strecke?
„Was es konkret für unseren Alltag heißen wird, hängt von den politischen Entscheidungen der nächsten Jahre ab. Auf welche Schule wird Lotta einmal gehen? Wie weit wird Deutschland dann in puncto Inklusion sein? Werde ich noch die Wahl haben zwischen Sonder- und Regelschule? Und welche werde ich wollen? Während wir nach dem richtigen Weg für Lotta suchen, ist alles um uns herum im Umbruch.“
Sandra Roth weiß nicht, wohin Lotta sie noch tragen wird. Mit dieser Ungewissheit muss sie leben. Was sie weiß ist, dass Lotta mit ihrem Grübchenlächeln nicht nur ihren Vater um den Finger wickeln kann. Und dass man nicht laufen können muss, um glücklich zu sein.
Roth, Sandra (2013): Lotta Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl, Kiepenheuer & Witsch, ISBN: 978-3-462-04566-6, 18,99 Euro
Sandra Roth diskutiert am Kongress-Sonntag auf dem Podium mit Gregor Gysi, Ulla Schmidt, Sibylle Laurischk und Thomas Bodmer zur Frage: "Familien machen Gesellschaft – und wer macht mit?“
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